Inventurdifferenz by Britta Mühlbauer
Autor:Britta Mühlbauer
Die sprache: deu
Format: mobi, azw3, epub
ISBN: 9783552062375
Herausgeber: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag Wien 2013
veröffentlicht: 2013-06-10T22:00:00+00:00
Ich muss wieder eingeschlafen sein. Plötzlich höre ich Stimmen. Viele Stimmen. Es klingt wie eine Party. Wer feiert um sechs Uhr morgens eine Party? Ich rolle aus dem Bett. Ich habe Durst, Magendrücken und Sodbrennen. Die Luft im Zimmer ist dumpf. Ich stoße die Fensterläden auf. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, der Himmel grau. Es ist kühl. Die Luftfeuchtigkeit hat abgenommen. Ich atme durch. Die Stimmen kommen vom Grundstück gegenüber. Hinter der Gartenmauer stehen Hartlaubbäume. Ich kann die Vögel nicht sehen, ich höre sie nur schreien. Ich stoße einen Pfiff aus. Der Lärm verstummt – und setzt ebenso schlagartig wieder ein. Unheimlich. Sogar die Tiere in diesem Land sind unheimlich. Ich trinke einen Schluck aus der Wasserflasche und beginne auf der Stelle zu schwitzen. Im Badezimmer wasche ich mir das Gesicht. Lauwarmes Wasser kommt aus dem Kaltwasserhahn. Heute werde ich nicht den halben Tag verschlafen. Ich werde Hanna finden. Heute, jetzt sofort. Meine gestrige Zaghaftigkeit scheint mir lächerlich. Ich ziehe mich an, packe meinen Rucksack und gehe nach unten. Es ist sechs Uhr dreißig.
In der Eingangshalle kämpft Emily mit einer Abdeckfolie. Ihr kleiner zarter Körper verliert sich in einem Overall, der mit Farbe bekleckst ist. Ein dreieckiger Tschako aus Zeitungspapier sitzt auf ihren Zopfmeridianen. Papierschiffchen falten scheint auf der ganzen Welt verbreitet zu sein. Die Folie plustert sich. Emily hat sie zu weit angehoben. Die Luftblasen sind zu groß. Sie tritt danach. Die Blasen weichen aus, teilen sich und blähen die Folie an anderen Stellen auf. Emily trampelt hinterher. Carmen steht auf der Leiter und lacht. Ihre Messingohrringe schlenkern. Hellblaue Farbspritzer leuchten auf ihrer dunkelbraunen Haut. Ich stelle meinen Rucksack ab, ziehe die Folie an einer Ecke straff, stelle einen Eimer darauf und trete die Luftblase mit großen schnellen Schritten vor mir her an den gegenüberliegenden Rand. So hat Norbert es immer gemacht. Carmen klettert von der Leiter. Ich frage sie, wo ich um diese Zeit Kaffee bekomme. Sie sieht mich verwundert an. »Here.«
Ich folge ihr in den Hof. Sie verschwindet in der Küche hinter der Stellwand. Als ich mich an den Tisch setze, an dem gestern die Unbekannte frühstückte, bin ich sicher, dass Hanna diese Unbekannte war. Carmen hatte sie nach meiner Ankunft angerufen. Hanna war am frühen Morgen gekommen und hatte auf mich gewartet. Als ich nicht auftauchte, wurde sie ungeduldig und ging. Sie hatte wichtigere Dinge zu erledigen, als zu warten, bis ich aufstehe. Denkt sie. Möglich auch, dass mein Auftauchen sie beunruhigte (was es sollte) und sie nicht sicher war, ob sie mich treffen wollte. Sie beriet sich mit Carmen und beschloss, mich hinzuhalten. Sie will unser Treffen hinauszögern, bis ich zermürbt bin. Soll sie warten. Ich werde sie finden. Ich frage mich, was sie hier treibt. Ich versuche mir vorzustellen, wie ihr Leben hier aussieht. Sie hat Geld. Sie muss nicht arbeiten. Doch eine untätige Hanna kann ich mir nicht vorstellen. Ich strecke die Beine aus. Unter dem Blätterdach der Kübelpflanzen im Hof herrscht der Friede einer Urwaldlichtung. Dampf zischt hinter der Stellwand. Carmen taucht auf und stellt einen sehr kleinen, sehr schwarzen Espresso vor mich hin.
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